Wetterauer Aktion Frieden
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Atolle im Taifun

Am 9. August 2025 gedachten wir in Friedberg der Menschen, auf deren Leben und Lebensweise bei den über 2.000 Atom"Tests" keine Rücksicht genommen wurde. Die ersten beiden "Tests" nach den Angriffen auf Hiroshima und Nagasaki machte das US-Militär im Juli 1946 auf dem Bikini-Atoll. Es sollten noch lange nicht die letzten sein. 

Erst vor wenigen Wochen wurde von der Weltgesundheitsversammlung eine Resolution beschlossen, dass die langanhaltenden gesundheitlichen Auswirkungen der Atomwaffeneinsätze und der "Tests" bei neuen Studien einbezogen werden. Die Einbeziehung der gesundheitlichen Folgen der Atomwaffentests bedeutet für die Überlebenden, dass sie ihre Forderungen nach Anerkennung und Entschädigungen mit Daten untermauern können. Siehe dazu den Artikel von Dr. Angelika Claußen in nebenstehender PDF-Datei.


In "Atolle im Taifun - Ein Reisebericht aus der Inselwelt Mikronesiens" erzählt der Autor Miloslav Stingl in einigen Kapiteln über die Atom"Tests" und welche Folgen sie hatten. Wir lasen wir am 9. August 2025 Auszüge aus den Kapiteln ... Zu den Atollen der Marschall-Inseln   (1) - Ein Mann aus Bikini  (2) - Die lange Wanderung auf das Atoll Killi   (3) - Der unglückliche Glückliche Drache   (4) - Requiem für das Atoll Rongelap   (5) - Stein und Feuer  (6). Der Bericht seiner Reise Anfang der 1970er Jahre ist nur noch antiquarisch zu finden. Die Vollversion der verwendeten Kapitel finden Sie hier auf dieser Webseite als PDF-Dateien.

Lesung:
aus: (1), (2) und (3)

Zum vierten Male befand ich mich bereits in Ozeanien. Meine neue Reise führte mich nach Mikronesien, den am wenigsten bekannten Teil Ozeaniens. Diese Inseln gehören zu den USA bzw. werden von ihnen seit dem 2. Weltkrieg als Treuhandgebiet verwaltet. In der Mehrzahl sind es Atolle und Korallenbänke. Von Honolulu aus, der Hauptstadt von Hawaii, flog ich zu den Marschall-Inseln in Ostmikronesien. In dieser Gruppe gibt es neun-undzwanzig Atolle, ringförmige Inselketten mit einer Lagune in der Mitte und einer dünnen Humusschicht. Ich wollte Majuro besuchen, das Atoll mit der größten Festlandsfläche.

Das Haus, in dem ich auf Majuro wohnte, steht genau im Zentrum von Dud. In demselben Gebäude hat das Parlament der Marshall-Inseln seinen Sitz, treffen sich die Repräsentan-ten der Bürger aller Atolle.
Eben dort in diesem »Parlamentsgebäude« von Majuro begegnete ich unter anderen Ver-tretern auch einem Mann aus Bikini. In das Bewußtsein der Weit drang der Name dieses mikronesischen Atolls im Jahre 1946, als die Amerikaner den Ort für eine Reihe der ge-planten Atom-Versuchsexplosionen wählten. Niemals zuvor in der Geschichte der Wissen-schaft sind an einem einzigen Versuch so viele Menschen beteiligt gewesen; man spricht, daß 40.000 unmittelbar an den Vorbereitungen teilgenommen hatten.
Die Welt sollte auf das Bikini-Atoll schauen und auf die benachbarten und ebenfalls be-troffenen Atolle Eniwetok und Karjalein dazu. Die Szenerie war vorbereitet. Aus dem Aller-weltstheater vertrieb man als einzige die Bikini-Bewohner.
In einer Zeitung las ich dann die Aussage des derzeitigen Führers der Bikini-Leute - Häuptling Lora. Er erinnerte sich, wie die Marineoffiziere in die Siedlungen von Bikini gekommen waren: »Sie hatten befohlen, wir sollten augenblicklich eine Volkszählung durchführen und alles, was uns gehörte, zusammenstellen. Eine Woche später kam ein Admiral, der eine Unmenge Sternchen auf der Schulter trug, und sagte, daß wir im Interesse der Menschheit und des Weltfriedens unsere Insel verlassen müßten.«
Erst im Jahre 1968 erlaubte Präsident Johnson, dass neun Bikini-Insulaner für einige Tage ihr Atoll besuchen durften, um sich von dessen Zustand ein Bild machen zu können. Was aber haben sie dort vorgefunden?
Gleich am Strand fiel ihnen eine eigenartige glasartige Kugel auf - sie wurde von den Flammen der Atomexplosion aus Korallensand gebacken.
Und hinter dem Uferstreifen? Als die Bikinileute ihr Atoll verlassen mußten, hatten ihnen in einer leichten Brise etliche tausend Kokospalmen zum Abschied zugewinkt. Jetzt dagegen fanden sie auf allen Inseln des Atolls zusammen nur einen einzigen Baum, der dieses Inferno überlebt hatte.
Und die Fische in der Lagune? Es schien, als wären auch sie vor dem Feuerschein der Explosion geflohen. Die Lagune ist fast verwaist.
Das Festland selbst wird jetzt nur noch von Ratten bewohnt.
Die Hütten, in denen die Bikinileute gelebt hatten, sahen sie selbstverständlich ebenfalls nicht mehr. Auch sie waren wie weggeschmolzen durch die Glut der Explosion.
Ja, die Besucher fanden nicht einmal mehr die festeren Bauten wie die Kirche und das Stammeshaus vor.
Das kleine Eiland im Stillen Ozean bot seinen einstigen Bewohnern einen traurigen Anblick: Es ist zerborsten. Verstümmelt. Verwüstet.
Der Atomblitz hat sogar die Gebeine der in die Erde bestatteten Ahnen zerstört. Welche Ironie! Nicht einmal die Toten auf Bikini haben die Versuche der Lebenden überstanden.
Mir ist von Bikini die Erinnerung geblieben, an die Begegnung mit einem von jenen, auf deren Atoll Wissenschaftler Kraft und Schrecken einer furchtbaren Erfindung bewiesen haben. Die mehr als dreißig Jahre des Umherirrens dieser Heimatlosen aber sind der Welt nicht bekannt. Sie erinnert sich eigentlich nur an den Namen dieses Atolls.



aus: (4)

Von hier aus verbreitete sich eine neue Krankheit, die ein für allemal mit dem Namen »Bikini« verbunden sein wird. Und weil mich alles interessiert, was mit Mikronesien und seinen Atollen zusammenhängt, habe ich in meinem Reisetagebuch auch die Geschichte dieser Krankheit und das Schicksal ihrer ersten Opfer niedergeschrieben.
Der erste Held in diesem Geschehen trug einen Namen, wie sie in den ostasiatischen Märchen oft vorkommen - der Glückliche Drache. So heißt auch ein Schiff, einer dieser unzähligen kleinen Trawler, die auf der Jagd nach Thunfischen ihre Furchen durch die Wasser der Südsee ziehen. Die zweiundzwanzig Männer der Besatzung fischten Im Februar 1954 im Gebiet der nördlichen Marschall-Inseln. Überall ringsum wimmelte es von Thunfischen. Ansonsten ereignete sich nichts Besonderes.
Dann aber, genau in den frühen Morgenstunden des 1. März nahm urplötzlich eine Reihe merkwürdiger Ereignisse ihren Lauf. All schliefen noch. Auf der Schiffsbrücke hielt nur der Schiffer Shinzo Suzuki Wacht. Gedankenlos schaute er in die tintenschwarze Nacht, und da sah er jählings ein Wunder! Lange bevor die Morgendämmerung hätte eintreten sollen – es war kaum halb vier Uhr -, ging die Sonne am Horizont auf, nein, besser gesagt, sie brach hervor. Und was für eine Sonne! Orangefarben, ganz fantastisch. Sie wuchs schneller aus dem mikronesischen Meer herauf als jemals zuvor, als wollte sie das Himmelsgewölbe durchstoßen.
Doch nach einigen Sekunden bemerkte Suzuki eine noch seltsamere Sache: Die Sonne ging auf der entgegengesetzten Seite auf! Die Sonne ging im Westen auf. Das war zuviel. Trotz des Respekts seinem Vorgesetzten gegenüber stürzte der Fischer in die Kapitänskajüte und wiederholte ohne Unterlaß nur den einen Satz: »Herr, die Sonne geht im Westen auf. Die Sonne geht im Westen auf!«.
Der Kapitän glaubte natürlich dem Fischer nicht. Gleich darauf aber wollte er seinen Augen nicht trauen. Die Sonne stieg tatsächlich aus dem Wasser des Meeres auf, und zwar auf der westlichen Seite. Kurz darauf befand sich die gesamte Besatzung an Deck. Der  Funker Kubojama, der als einziger ein wenig Englisch verstand, erinnerte sich, daß er vor einigen Tagen im Rundfunk gehört hatte, die Amerikaner bereiteten angeblich Versuche mit neuen, noch »besseren« Kernwaffen auf den Marshall-Inseln vor, mit Bomben, die noch stärker als jene waren, die zwei Städte ihres Landes vernichtet hatten. Und die sahen sie nun, wie Kubojama vermutete, mit eigenen Augen.
Noch lange schauten die Seeleute wie verzaubert auf diese strahlenden Farben. Aber dann hörte diese Sonne zu strahlen auf, und nach nicht ganz zwei Stunden breitete sich eine sonderbare Wolke über dem ganzen Himmel aus. So wie an diesem Tag alle anderen übernatürlichen Phänomene hatten die Männer des Glücklichen Drachen auch niemals zuvor eine derartige Wolke gesehen. Die Luft war wie mit Nebel erfüllt.
Als ob ein Blizzard aufzöge - ein Wintergewitter. Dann fielen richtige Flocken vom Himmel. Schnee? Doch Schnee - und das in Mikronesien! Selten kann eine Vorstellung widersinniger sein. Und dennoch waren es Flocken, grauweiß, als schneite es in einer großen Industriestadt.
Der Rumpf des Glücklichen Drachen war von dem merkwürdigen Schnee bald bis auf das letzte Plätzchen übersät. Und wieder wollten die Matrosen ihren Augen nicht trauen. Sie nahmen die Flocken in die Hand und legten sie wie Hostien in den Mund. Nein, Schnee war das nicht. Die Flocken erinnerten an Salz und an Sand.
Außerdem stellten sich einige Stunden nach dem merkwürdigen Schneefall weitere unerwartete Dinge ein. Die Matrosen des Glücklichen Drachen mußten sich - einer nach dem anderen - übergeben! Der Maschinist Jamamoto konnte kaum sehen, und denen, die noch gesund waren, wurde schlecht, als ihnen der Funker anderntags früh die kurzgefaßten Informationen übermittelte, die er aus den amerikanischen Nachrichten von der Midway-Insel aufgefangen hatte. Der Direktor der Kommission für Atomenergie in den USA, teilte mit, daß tags zuvor der erste aus der Reihe der geplanten Versuche auf dem Übungsgelände der Marshall-Inseln durchgeführt worden war.
Der Glückliche Drache hörte auf, glücklich zu sein. Und seine Besatzung verstand nun, weshalb die Sonne im Westen aufgegangen war und was sie auf ihrer Zunge kosteten, als auf ihr Schiff dieser eigenartige Schnee niederfiel.
Der unglückliche Glückliche Drache wandte sich der Heimat zu. Nach zwanzig Tagen - am 14. März - ging der Glückliche Drache in Yaizu vor Anker. Misaki rief im Namen der ganzen Besatzung das dortige Krankenhaus an. Und fügte gleich hinzu: »Wir wurden während der Atomexplosion bestrahlt.«
Doch es dauerte noch Wochen, bis ganz Japan die tragische Nachricht von dem unglücklichen Glücklichen Drachen und seiner Männer lesen konnte.
Von diesem Augenblick an wandte sich den bedauernswerten Matrosen tatsächlich die Aufmerksamkeit der ganzen Weit zu. Jetzt endlich begannen sich für die Opfer der Versuche mit neuen, unvergleichlich wirksameren Kernwaffen die verschiedensten medizinischen und wissenschaftlichen Institute zu interessieren.
An den Matrosen des Glücklichen Drachen konnte zuerst nachgewiesen werden, daß sich diese Krankheit wesentlich von den Strahlungserkrankungen in Hiroshima unterschied. Die Fischer  hatten die eigentliche Explosion über dem mikronesischen Atoll aus 140 Kilometer Entfernung beobachtet, und sogar die Schallwelle war erst nach sieben Minuten zu ihnen gelangt.
Dafür wurde ihr Schiff mit dem Flockenwirbel aus der radioaktiven Wolke überschüttet. Nach der Explosion fielen Billionen und Trillionen grauweißer »Schnee«flocken über ganz Mikronesien herab!
Das erste Opfer dieser neuen Krankheit, der erste Tote, war der Funker des Glücklichen Drachen, der neununddreißigjährige Ajkitshi Kubojama, und zwar nach zweihundertundsieben Tagen vergeblichen Ringens mit dem hinterhältigen Tode.

aus (5)
Das Deck des Glücklichen Drachen war an jenem Märzmorgen des Jahres vierundfünfzig nicht der einzige Platz in den mikronesischen Gewässern, auf dem sich der weißgraue Atomstaub angesammelt hatte. Auch das mikronesische Atoll Rongelap und seine Einwohner waren heimgesucht worden, allerdings in unvergleichlich schwächerem Maße. Unter den »gegebenen Voraussetzungen« hätte den Insulanern keine Gefahr gedroht. Doch der Wind änderte seine Richtung und wehte auch auf dieses Atoll den radioaktiven Niederschlag.
Diesmal allerdings sandten die Amerikaner schnell Hilfe und überführten die Männer, Frauen und Kinder von Rongelap auf das Atoll Majuro, wo fast hundert Mikronesier ärztlich betreut wurden. Erst nach längerer Zeit, nachdem bei ihnen keine offensichtliche Schädigung durch Strahlung erkennbar war, durften die Bewohner dieses Atolls nach Hause zurückkehren.
Das geschah vor fünfundzwanzig Jahren. Aber die heimtückische Krankheit muß ihre Opfer nicht immer so schnell ereilen wie den Funker des Glücklichen Drachen. An ihn mußte ich denken, als ich das neuerbaute Krankenhaus auf Majuro besichtigte. Mit einigen Patienten habe ich gesprochen. Zwei von ihnen waren sehr jung, kaum zwanzigjährig - beides Männer - und litten an einer besonderen, sonst nirgends auf der Welt existierenden Erkrankung der Schilddrüse. Ich erkundigte mich, woher sie stammten. »Vorn Atoll Rongelap«, lautete die Antwort .
Mir ging ein Licht auf. Die Mikronesier dieser Atolle ernähren sich ausschließlich vorn Meer. Die Kinder aus Rongelap nahmen noch ganze achtundvierzig Stunden nach der Explosion über den Fisch radioaktives Jod zu sich. Dieses radioaktive Jod schädigte das Schilddrüsengewebe stark.
Bis zum heutigen Tage hängen überall auf diesem Atoll viele Tafeln mit den verschiedensten Verboten: So dürfen die Rongelap-Bewohner zum Beispiel noch immer nicht die auf den Kokospalmen lebenden Baumkrabben essen, obwohl diese Krabbe früher ein Hauptnahrungsmittel der Atoll-Bewohner gewesen ist.
Doch die Behörden verhängen über Rongelap nicht nur Verbote. Jahr um Jahr - immer im März entsenden sie auf das Atoll ein Team von Wissenschaftlern, die etwaige Veränderungen im Gesundheitszustand seiner Bewohner ermitteln sollen. Das ist ein besonderer Anblick: Für einige Tage verwandeln sie das kleine Atoll im Norden der Marshall-Inseln in ein Laboratorium und dessen Einwohner in eine Art Versuchskaninchen, wobei sie Blut, Urin, ja sogar Proben von Körpergewebe abnehmen. Jene Ärzte, die die Rongelap-Leute betreuen, gehören der Elite der amerikanischen Medizin an. Sie tun sicher alles, was in ihrer Macht steht.  Aber gegen diesen Krebs in Rongelap sind sie machtlos.

aus: (6)
Miloslav Stingl beendete seine lange Reise durch die Inselwelt Mikronesiens auf Guam, der Hauptinsel der Marianen-Inselkette, dem wichtigsten US-Stützpunkt im Westpazifik. Vor seinem Abflug nach Japan besuchte er die Insel Tinian. Er schreibt:
Seitlich an der Flugzeugpiste entdeckte ich einen Zementblock, der zu beiden Seiten von gelbblühenden Bäumen und einer noch jungen Palme - das einstige Symbol des Friedens - umgeben war.
Auf dem Betonblock war eine Metallplatte befestigt, die folgende Aufschrift trug: »An dieser Stelle befand sich das erste Atomwaffenlager, aus dem die erste, im Kampf angewandte Atombombe an Bord des Flugzeuges B-29 verlagert und am 6. August 1945 über Japan, über Hiroshima abgeworfen wurde....“ Zweihundert Meter weiter fand ich einen zweiten, gleichen Gedenkstein. Auch der Text war ähnlich. Er enthielt nur die Mitteilung, daß sich hier das Lager der Atombombe Nr.2 befunden hatte und daß von dieser Stelle aus das Flugzeug gestartet war, das dann die Bombe auf Nagasaki abwarf. ...
Ich schaute voller Ergriffenheit auf den einfachen Gedenkstein. Auf das Mahnmal an das Feuer, das die Einwohner von Hiroshima und Nagasaki verbrannt hatte, das Atomfeuer, das allerdings - und das wissen nur sehr wenige - auch die Einwohner dieses Mikronesiens - die Einwohner von Rongelap und Utirik, Eniwetok wie die von Bikini versengt hatte und noch heute versengt. Das Feuer, das bis jetzt auch den Fischern des Glücklichen Drachen noch zu schaffen macht.